Mein Erlebnisbericht von der totalen Sonnenfinsternis am 11.08.1999

10.08.1999:

11.00 Uhr: Letzte Recherchen im Internet über Beobachtungsorte und Wetterprognosen.

12.10 Uhr: Die Fahrt beginnt (Ziel: über Frankfurt, Darmstadt, Heidelberg, Karlsruhe nach Stuttgart). Weitere Teilnehmer sind mein Cousin Markus Raabe und Matthias Lochen. Unsere Ausrüstung: Sonnenfinsternisbrillen, Fernglas, Teleskop, Fotoapparat, Kompass, Funkuhr, Zelt, Schlafsäcke, Sonnenfinsternislektüre, Laptop mit Sonnenfinsternis-Internetseiten und ein Autoatlas.

15.05 Uhr: Hinter Heidelberg biegen wir auf Grund der Wettervorhersagen ins Saarland ab. Die Fahrtroute lautet nun: über Speyer, Landau, den Pfälzer Wald, Pirmasens, Zweibrücken nach Saarbrücken. Mein Cousin Markus sucht uns während der Fahrt den besten Beobachtungsort aus, der folgende Voraussetzungen bieten sollte: er muss in Deutschland liegen, die Wahrscheinlichkeit der Wolkenfreiheit muss groß sein, er muss möglichst näher an der absoluten Totalitätslinie liegen als Saarbrücken (um die Dauer der totalen Verfinsterung zu erhöhen), es muss ein freier Blick nach Westen, möglichst von einem Berg, vorhanden sein (für das Herannahen des Mondschattens). Sein Ergebnis: Ein Berg in Kleinblittersdorf ca. 7 km südlich von Saarbrücken. Diesen Ort peilen wir also an.

17.30 Uhr: Wir sind in Kleinblittersdorf und suchen den Beobachtungsort. Zuerst landen wir in Frankreich, kurz später haben wir „unseren“ Berg aber erreicht.

19.00 Uhr: Unseren endgültigen Beobachtungsort finden wir nach dem Abendessen. Es ist ein Bunker mit überirdischem Mahnmahl für die Opfer des ersten Weltkriegs und Blick auf Frankreich in 400 m Höhe. In der Nähe befinden sich verschiedene Kinderheime. Hier können wir auch unser Zelt problemlos aufschlagen.

20.00 Uhr: Wir fahren nach Saarbrücken zur Sonnenfinsternisparty.

01.00 Uhr: Nach dem Feuerwerk und einem Mitternachtsvortrag eines bekannten Sonnenfinsternisprofis an der Saar fahren wir zu unserem Beobachtungsort nach Kleinblittersdorf zurück, schlagen das Zelt auf, feiern noch ein bisschen und schlafen erst sehr spät ein.

 

11.08.1999:

09.30 Uhr: Nach einer kurzen Nacht wachen wir auf.

09.55 Uhr: Wir fahren zum Bäcker ins Dorf. Dort bekommen wir die Meldung: die Brötchen in Kleinblittersdorf sind erstmals seit Bestehen des Dorfs ausverkauft! Nach Diskussion mit der Bäckerin schmiert sie uns Brote und kann nicht verstehen, dass man nicht in Saarbrücken bleibt, nur weil die totale Verfinsterung hier zwei Sekunden länger dauert („...,dass die Leute mal in unser Dorf strömen hätte ich nie gedacht...“). Das Wetter ist noch schlecht (komplett bewölkt), aber vielleicht lösen sich die Wolken doch noch auf.

10.30 Uhr: Der erste Wermutstropfen: als wir wieder an unserem Schlafplatz, der 30 m von unserem Beobachtungspunkt entfernt liegt, eintreffen, kommt uns der Lärm von Jugendlichen und Kindern entgegen, die sich auf unserem Beobachtungsort an der nördlichsten Stelle mit einem Radiorecorder, diversen Rauschmitteln und nur einer Sonnenfinsternisbrille niedergelassen haben. Bevor es noch voller wird, nehmen wir uns schnell die gesamte Ausrüstung und beziehen unsere Plätze.

11.10 Uhr: Der erste Kontakt findet statt. Der Mond nagt die Sonnenscheibe an! Leider ist immer noch alles bewölkt, und wir bekommen nichts davon mit.

11.30: Das erste Mini-Guckloch durch die Wolken! Es herrscht helle Aufregung, alle Brillen kommen das erste mal zum Einsatz. Der Mond bedeckt bereits ca. ein Viertel der Sonnenscheibe. Leider kann man nur eine Minute lang beobachten, bis eine dunkle Wolke wieder alles verdeckt.

11.40 Uhr: Wieder eine Lücke, und die Wolken werden dünner. Teilweise ist die immer weiter bedeckte Sonne durch die dünneren Wolken zu sehen. Die Stimmung steigt, da sich aus Nordwesten eine riesige Wolkenlücke fast unmerklich langsam nähert. Das Teleskop wird eingerichtet und wirft die Sonnenscheibe ab sofort auf ein weißes Blatt Papier. Wie besessen reden wir uns gegenseitig ein, dass es mit der Wolkenlücke zur totalen Phase genau klappen könnte. Die Kinder und Jugendlichen werden immer unruhiger. Wir befürchten, dass sie während der totalen Phase den Gesamteindruck durch ihren Krach stören werden.

11.50 Uhr: Immer wieder kann man durch Wolkenlücken oder durch halbdichte Wolken die Sonnenscheibe beobachten. Es erscheint ein Fotograf mit der Prognose, dass es noch besser wird und die Totalität genau erwischt werden kann. Unsere Hoffnung steigt immer mehr.

12.00 Uhr: Ein Pärchen erscheint und beobachtet vom nordwestlichsten Punkt das Schauspiel.

12.12.10 Uhr : Lange erwartet: die Wolkenlücke erreicht unseren Berg! Die Temperatur steigt noch einmal leicht an. Ein riesiges Glücksgefühl macht sich breit. Die Sonnenfinsternisbrillen kommen nun ohne Unterbrechung zum Einsatz. Das Ziel wird sofort invertiert. Bisher hieß es: bitte mehr Wind, damit die Lücke kommt! Nun heißt es: bitte kein Wind mehr, damit die Lücke bleibt!

Ich war so aufgeregt, dass ich einem Jugendlichen eine falsche Antwort gab. Er fragte mich, ob die Verdeckung schon über 70% ist, was ich nach kurzem falschen Rechnen verneinte. Erst bei dieser Dokumentation stellte ich fest, dass die Bedeckung bei Ankunft der Wolkenlücke genau 77,7% betrug und die „7“ seit dem ich denken kann meine Glückszahl ist.

Mit jeder Minute sinkt die Temperatur! Um diesen Effekt zu verbessern, ziehe ich mein Hemd und T-Shirt aus.

12.20 Uhr: Die schönsten zehn Minuten liegen hinter uns. Die Sonne ist nun schon fast zu 90% bedeckt. Leider habe ich den Lochkamera-Sichel-Effekt im angrenzenden Wald nicht beobachten können, wollte aber auch nicht zu viel Zeit damit verschwenden. Die Vögel werden unruhiger. Viele Raben kreisen am Himmel und krähen. Aber schade: die Wolkenlücke zieht weiter, so dass wir die Hoffnung verlieren, die Korona zu erleben. In Frankreich regnet es bereits in Strömen, und die Wolken sind dunkelgrau. Die Wolkenwand hat den Fuß unseres Berges bereits erreicht.

12.23 Uhr: Um den für die Korona vorbereiteten Fotoapparat wenigstens einmal nutzen zu können, mache ich ein Foto von der Sonnensichel. Es ist bereits so kalt, dass man eine Gänsehaut bekommt und richtig friert. Ich ziehe mein Hemd wieder an.

12.25 Uhr: Die Schreckensvision hat sich bewahrheitet. Kurz vor der Totalitätsphase schiebt sich die Wolkendecke unwiderruflich vor die Sonnensichel. Per Zufall lässt der letzte Blick auf die Sichel die 93,7%-Bedeckung erkennen, die es sechs Minuten später auch in unserem Heimatort Dortmund als Maximum zu erkennen gibt. Die Enttäuschung ist riesig.

12.26 Uhr: Es wird merklich immer dunkler. Um das beste aus der Situation zu machen, stelle ich mich so hin, dass ich den herannahenden Schatten, der auf die Wolken fallen wird, hoffentlich irgendwie wahrnehmen kann (Blick in Richtung West mit 18%-Neigung nach Nord, auf der Uhr ca. 12 Minuten vor Nord, wenn West bei 15 Minuten vor Nord ist).

12.27 Uhr: Es wird weiter kühler und am Horizont in Blickrichtung immer dunkler.

12.28 Uhr: Es wird immer unheimlicher.

12.29.0x Uhr: Ich schreie auf: „Der Mondschatten kommt“ und lasse in den nächsten Sekunden die Eindrücke auf mich wirken, wie die Landschaft vor uns in tiefster Nacht versinkt. Weiterhin wird es bei uns mit jeder Sekunde dunkler. Der Finsternis-Wind bleibt aus. Es ist windstill. Ein Vogel startet unwissend in den dunklen Himmel.

12.29.16 Uhr: Der genialste Moment. Obwohl es vorher bereits von Sekunde zu Sekunde dunkler wurde, kommt jetzt innerhalb einer viertel Sekunde der „Tod“ des Lichtes. Es scheint, als ob jemand einen Dimmer ganz schnell auf „Aus“ herunterregelt. Es ist stockduster, genau wie in der tiefsten Nacht.

12.29.22 Uhr: Unheimlich: Die gerade eingetretene Dunkelheit wird von einem Blitz und einem Donner erschüttert. Es herrscht Untergangsstimmung. Dazu legen die Beobachter des Nachbarhügels eine ergreifende Passage aus der „Carmina Burana“ auf. Diesen Moment werde ich in meinem Leben nie vergessen. Die Enttäuschung über die nicht zu sehende Korona ist erloschen.

12.30 Uhr bis 12.31 Uhr: Man genießt die Finsternis. Im französischen Dorf gegenüber sind die Straßenlaternen an. Überraschend: die Jugendlichen sind selbst so ergriffen, dass sie sich völlig ruhig verhalten.

12.31.1x Uhr: In Frankreich wird es wieder heller. Die Helligkeit kommt auf uns zu.

12.31.28 Uhr: Der Dimmeffekt andersherum: plötzlich wird es wieder hell. Da sich das Auge an die tiefe Nacht gewöhnt hatte, kommt es einem plötzlich taghell vor. Trotzdem bemerkt man in den nächsten Minuten, dass es weiterhin immer heller wird.

12.34 Uhr: Gott sei Dank erst jetzt: es beginnt zu regnen, und zwar mächtig. In Sekundenschnelle muss alles abgebaut und im Auto verstaut werden.

12.40 Uhr: Wir fahren in eine Eisdiele in Kleinblittersdorf und tauschen mit anderen Sonnenfinsternis-Beobachtern unsere Erlebnisse aus.

13.30 Uhr: Der Regen hat aufgehört. Wir fahren zu unserem Schlafplatz und bauen das Zelt ab. Danach geht es in Richtung Autobahn. In unserer Freude über das Erlebte hupen wir bei der Fahrt durch Kleinblittersdorf noch mal allen Stationen, an denen wir Halt gemacht hatten, zu: der Pommesbudenfrau, der Eisdiele, der Bäckerei und der Pizzeria. Diesen Ort werden wir wohl nie vergessen und bei zufälligem Aufenthalt in der Nähe sicherlich wieder besuchen.

20.00 Uhr: Nebenbei erfahren wir das 1:0 des BVB aus dem Champions-League-Quali-Spiel in Teplice (Tschechien). Obwohl wir fanatische Fans des BVB sind, und normalerweise unseren gesamten Tag auf dieses Spiel ausgerichtet hätten, scheint uns das tolle Ergebnis an diesem Tag völlig unwichtig. Kurzer Jubel, doch dann schwelgen wir weiter in Erinnerungen an das Erlebte und nehmen an der Sonnenfinsternis-Rückreise-Stau-Party teil.

23.00 Uhr: Mit einer durchschnittlichen Reisegeschwindigkeit von 45 km/h kommen wir nach neuneinhalb Stunden zu Hause an. Aber auch die lange Fahrtzeit steht in keinem Verhältnis zu dem tollen Tag. In der Nacht schaue ich mir die Live-Reportage über die Sonnenfinsternis, die ich tagsüber aufgenommen habe, an.

03.00 Uhr: Einer meiner schönsten Tage im Leben geht zu Ende.